Martin C. Putna
Religiosität im 19. Jahrhundert: Frömmigkeit der Unfrommen
9–16 (tschechisch), Resumé S. 15–16 (deutsch)
Die Entwicklung der tschechischen Frömmigkeit im 19. Jahrhundert ist in drei Etappen einzuteilen. In der ersten Hälfte gehört das Christentum noch zu den selbstverständlichen Lebensbestandteilen, in der zweiten Hälfte wird es mehr oder weniger an den Rand der Gesellschaft gedrängt, in das „katholische Ghetto", am Ende des Jahrhunderts wird das Interesse an dem religiösen The¬ma wieder lebendiger. Trotzdem sind sogar in der „irreligiösen" Epoche bei den vordersten Autoren der tschechischen Literatur etliche religiöse Motive anzu-treffen. Dies lässt sich an folgenden vier Autoren belegen: Bozena NSmcovä, Jan Neruda, Svatopluk Cech und Julius Zeyer. Die religiöse Erfahrung Nem-coväs ist ein Bestandteil ihrer natürlichen Welt, der einfachen Leute und der Kindheit. Zu dieser Weit kann sich die Autorin mittels der Erfahrung und Erin¬nerung beziehen, sie wird in den literarischen Werken durch solche Passagen evoziert wie „Barunkas mystische Vision". Ihren aktuellen Standort, den der er¬wachsenen Frau und reifen Autorin, die mitten in der Zivilisation lebt, sieht sie allerdings anders. In den Gedichten Jan Nerudas gibt es schon manche antikle¬rikalen Motive. Das Christentum wird betrachtet als eine der vielen religiösen Traditionen, gegebenenfalls als Metapher für das nationale und soziale Thema. Das zentrale Motiv der katholischen Religiosität, Christus und seine Mutter Ma¬ria, bleibt für Neruda jedoch nach wie vor eine Art Spiegelbild seines eigenen Lebens, seines Verhältnisses zur eigenen Mutter.
Neruda zeigte manchen seiner Nachfolger die Möglichkeit, wie in der Epo¬che der Unfrömmigkeit mit Christentum und mit christlichen Bildern umzuge¬hen ist. Manche von ihnen begaben sich „rückwärts", indem sie dem Christen¬tum einen Platz in der Welt zuerkannten, andere gingen „vorwärts", von den Traditionen zu Transpositionen. Die Nachfolger gingen „vorwärts": sie benutz¬ten die christlichen Motive als Metapher, fassten das Christentum als eine der
Mythologien, eine der Weltanschauungen auf, von denen jeder Autor und je¬der Mensch sich eine unabhängige Meinung bilden kann. So war es bei den Vertretern der dritten Epoche der Llnfrömmigkeit, bei Ruch-Gruppe und Lumir-Gruppe. Ein typischer Vertreter ist Svatopluk Cech, dessen erstes wie auch letz¬tes Werk der „religiösen Grübelet" gewidmet ist (am Anfang der Epos Adamite, am Ende die Sammlung Modlitby k Neznämemu), wobei die Grübelei in der Praxis eher einer religiösen Bastlerei im Sinne des damaligen dilettantischen Journalismus ähnelt. Julius Zeyer überwindet demgegenüber diese Phase und findet zurück zum kirchlichen Katholizismus. Die Religion ist weder aus dem geistigen Horizont dieser Autoren verschwunden, noch muss sie unbedingt negativ bewertet werden. Zum einen wird die Religion den Autoren „zum frei¬en Gebrauch" überlassen, zu in anderen wird sie instrumentalisiert - sie wird zu einem Mittel, mit dessen Hilfe man auf andere, durchaus positive Werte ver¬weisen kann. Erst dank der Erfahrung, dass man frei suchen und wählen kann, kann sie erst recht gebührend bewertet werden. Christentum, das am Anfang ihre Selbstverständlichkeit verloren hat, wird am Ende als unselbstverständliche wieder gefunden, Sie ist nie vollkommen verloren gegangen. Auch innerhalb der Epoche der Unfrömmigkeit übte sie auf die tschechische Gesellschaft ei¬nen kontinuierlichen Einfluss aus.
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