Ivan Klimeš
Und was ist zum Beispiel mit dem Kino?
Dreißig Jahre vor der Erfindung des Kinematographen hat Jan Evangelista Purkyně vorausgesagt, dass das bewegte Bild in Zukunft zum Erzählen von Geschichten verwendet werden würde – und seine Vision wurde mit dem Aufkommen des narrativen Films wahr. Das Publikum ist jedoch erst nach mehr als einem Jahrzehnt des Bestehens des Filmmediums der Erzählung von Geschichten verfallen. Bis dahin hatte die Produktion ganz andere Ziele verfolgt. Der Narration ging eine „Monstration“ – das Zeigen (des Unsichtbaren) – voraus. Historiker haben diese erste Phase des frühen Films als die Kinematographie der Attraktionen bezeichnet (unter Verwendung von Eisensteins Begriff „atrakcion“). Das Ziel der Produktionen war es nicht, eine interessante Geschichte zu erzählen, sondern die Zuschauer in Erstaunen zu versetzen. Aufnahmen aus exotischen Ländern oder umgekehrt aus der nächsten Umgebung, technologische Elemente wie die Verwendung von Farbe, Rückgang bei der Projektion oder der Wechsel der Projektionsgeschwindigkeit, Trickverfahren, Aufnahmen von Schlachtfeldern der Welt, mikroskopische oder Röntgenfilme, brutale Grotesken, biblische Szenen, fantastische Ereignisse, akrobatische Darbietungen, Aufführungen von Illusionisten, unverhüllte Erotik, Raubtiere in den Straßen der Großstadt usw. – alles das konnte als Quelle des beabsichtigten visuellen Schocks dienen. Da diese Art von Programm das Publikum mehr als ein Jahrzehnt fasziniert hat, so liefert uns diese Tatsache ein starkes Zeugnis dafür, dass die Moderne eine eigenartige Thematik des Sehens als solches umfasste und dass die Erfahrung des visuellen Vergnügens an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts auf der höchsten Stufe der vom Publikum anerkannten Werte stand.
Schlüsselwörter: Kinoshow – Kinematograph – Frühes Kino – Kino der Attraktionen
design by Bedřich Vémola